Interview mit dem Schriftsteller Dominik Riedo

Kairos – der richtige Zeitpunkt

oder

Kinski, Riedo, Schostakowitsch und … Kaffee

von Karin Afshar

Ein In­ter­view ist ein Ge­spräch, bei dem der eine Ge­sprächs­teil­neh­mer den an­de­ren zu ei­nem zu­vor fest­ge­leg­ten The­ma be­fragt. Ziel ei­nes In­ter­views ist die Er­lan­gung von In­for­ma­ti­on, ent­we­der per­sön­li­cher oder sach­li­cher Art. Der Le­ser, der das In­ter­view le­sen wird, weiss bes­ten­falls hin­ter­her mehr über den Be­frag­ten als er vor­her wusste.

Dominik Riedo (* 28. Februar 1974 in Luzern/CH)
Do­mi­nik Rie­do (* 28. Fe­bru­ar 1974 in Luzern/CH)

Ein In­ter­view ge­lingt dann be­son­ders gut, wenn sich der Be­fra­gen­de hin­rei­chend über sei­nen Part­ner vor­in­for­miert, sich aus­drucks­star­ke Fra­gen über­legt und sie in ei­nen mehr oder we­ni­ger ge­ord­ne­ten Zu­sam­men­hang bringt.
Der Be­frag­te sei­ner­seits muss wäh­rend des In­ter­views ei­gent­lich nichts wei­ter tun, als auf die Fra­gen so zu ant­wor­ten, dass so­wohl er als auch der Be­fra­gen­de mit den Ant­wor­ten je­weils ihre Bot­schaft auf den Weg bringen.

Es gibt et­li­che Fäl­le miss­lun­ge­ner In­ter­views. Die meis­ten be­kom­men Le­ser oder Zu­schau­er oder Hö­rer nie zu se­hen, aber hin und wie­der macht ei­nes in den Me­di­en die Runde.
Ein ech­tes Skan­dal-In­ter­view war ei­nes mit Klaus Kin­ski, ge­führt mit ei­ner jun­gen Re­por­te­rin, in ei­nem Park (viel­leicht Ham­burg), im Bei­sein sei­ner Frau und ei­ni­gen Fern­seh­leu­ten. Es ging um Kin­skis da­mals ge­ra­de her­aus­ge­kom­me­nes Stück „Je­sus Christus“.
Nun war Kin­ski als „un­mög­lich“, als en­fant ter­ri­ble be­kannt, und was In­ter­views an­ging als stör­risch ver­schrien. Ein In­ter­view mit ihm also eine heik­le Sa­che, die gu­ter Vor­be­rei­tung be­durf­te. Die jun­ge Re­por­te­rin tapp­te gleich zu Be­ginn in ein ers­tes Fett­näpf­chen, in­dem sie ihre Fra­ge um das be­deu­tungs­schwe­re Wort „aus­ge­fal­len“ er­wei­ter­te. Das zwei­te Näpf­chen stell­te sich ihr in den Weg, als sie Kin­ski als „ne­ga­ti­ven Hel­den“ be­zeich­ne­te, der sich nun­mehr (über­ra­schen­der­wei­se, aus­ge­rech­net) des Neu­en Tes­ta­ments an­ge­nom­men hät­te… Kin­ski es­ka­lier­te so­fort und liess sich auch nicht mehr be­ru­hi­gen. Der Rest des In­ter­views ist Geschichte.

Karin Afshar (* 1958 in der Eifel/D)
Ka­rin Afs­har (* 1958 in der Eifel/D)

Mein Ge­sprächs­part­ner ist nicht Klaus Kin­ski (der ist auch in­zwi­schen et­li­che Jah­re tot), son­dern ein le­ben­der, kürz­lich Ge­burts­tag fei­ern­der Schwei­zer Schrift­stel­ler: Do­mi­nik Rie­do. Als Nicht-Schwei­ze­rin und als Nur-noch-Spo­ra­disch-Le­sen­de ken­ne ich Herrn Rie­do nicht. Eine Lü­cke, die ich schlies­se, in­dem ich im Netz re­cher­chie­re. Do­mi­nik Rie­do stu­dier­te Ger­ma­nis­tik, Phi­lo­so­phie und Ge­schich­te in Zü­rich, Ber­lin und Lu­zern, von 2004 bis 2006 war er Lehr­be­auf­trag­ter an der Uni­ver­si­tät Zü­rich, seit 1993 ist er Schrift­stel­ler, Mit­her­aus­ge­ber von „Auf­klä­rung und Kri­tik“ (Zeit­schrift für frei­es Den­ken und hu­ma­nis­ti­sche Phi­lo­so­phie), war 2010-2012 der Prä­si­dent des Deutsch­schwei­zer PEN-Zen­trums und von 2007-2009 der Kul­tur­mi­nis­ter der Schweiz. Er pu­bli­ziert Bü­cher in ver­schie­de­nen Ver­la­gen, be­treibt eine Web­sei­te und schreibt ei­nen Blog, in dem er Apho­ris­men und Aus­zü­ge aus sei­nen Ar­bei­ten ein­stellt. Ich las­se mir drei sei­ner neu­es­ten Bü­cher (2014 er­schie­nen) kommen.

Ge­plant ist ein E-Mail-In­ter­view; die­se Form von In­ter­views ge­winnt im­mer mehr an Be­liebt­heit, folgt aber eben ei­ge­nen jour­na­lis­ti­schen Re­geln, die man auch ken­nen soll­te. Der gröss­te Un­ter­schied zu nor­ma­len In­ter­views ist der, dass die bei­den Ge­sprächs­part­ner nicht die Mög­lich­keit ha­ben, eine ge­stell­te Fra­ge zu er­wei­tern oder zu er­ör­tern, son­dern die Be­fra­gung und Be­ant­wor­tung sta­ti­scher sind und dem­zu­fol­ge struk­tu­riert vor­be­rei­tet sein wol­len. Zehn Fra­gen, so steht in den Leit­li­ni­en, die ich als­bald fin­de, soll­ten es in der Re­gel sein.

Ich schrei­be Herrn Rie­do eine ers­te Mail, um mich vor­zu­stel­len und um an­zu­kün­di­gen, dass dem­nächst mei­ne Fra­gen kom­men. Ich muss mich erst „warm laufen“.

Fra­ge: Was le­sen Sie zur­zeit? (Und ist es eher ein di­ckes oder dün­nes Buch?)

Rie­do: Proust und Love­craft und Barnes.

An­lass zur Fra­ge ist ein Zi­tat: „Li­te­ra­tur ist auf der ei­nen Sei­te wie ein di­ckes Buch, auf der an­de­ren wie ein dün­nes. Im di­cken, das im un­mög­li­chen Ide­al­fall ein Welt­wäl­zer wäre, kann man sein gan­zes Le­ben fort­le­sen, ohne aus dem Traum in die Rea­li­tät nie­der­stei­gen zu müs­sen. Beim dün­nen, das bis zu ei­nem Wort, zu ei­nem Zei­chen nur­mehr, zu­sam­men­schmel­zen soll, wird durch das Ge­le­se­ne eine plötz­li­che Ein­sicht in die Wirk­lich­keit bewirkt.“
Rie­do: Man kann nicht sämt­li­che Li­te­ra­tur in ei­nem Men­schen­le­ben le­sen. Dar­um ist es vor al­lem wich­tig, von ele­men­ta­ren Wer­ken zu­min­dest den Nu­kle­us – also das, was ein be­stimm­tes Werk im In­ners­ten zu­sam­men­hält, was es aus­macht und de­ter­mi­niert – zu ver­ste­hen; man soll­te (selbst als un­krea­ti­ves We­sen) zu­min­dest be­grei­fen, war­um ein Au­tor ein sol­ches Buch über­haupt schrei­ben woll­te und konnte.

In ei­ner spä­te­ren Mail, nach­ge­fragt, wie es Proust jetzt „gin­ge“:
Rie­do: Proust steckt fest. Der drit­te Band ist zu zäh. Mal se­hen, ob ich ihn durch­ge­he oder über­win­de. Im Mo­ment ei­ni­ges an­de­re auf dem Nachttisch.

Dominik Riedo - Uns trägt das Angesungene - Edition Taberna Kritika - Glarean Magazin
Do­mi­nik Rie­do: „Uns trägt das An­ge­sun­ge­ne“ – edi­ti­on ta­ber­na kritika

Ich lese der­weil in „Uns trägt das An­ge­sun­ge­ne“. Es ist ein rosa-/ma­gen­ta­far­be­nes A6-for­ma­ti­ges Ta­schen­buch mit Text­schnip­seln, mit An­ge­dach­tem, far­big im Text be­las­se­nen Kor­rek­tur­an­mer­kun­gen und ge­schwärz­tem Text. Sieht in­ter­es­sant aus. Der Klap­pen­text hebt an mit der Fra­ge, ob Skiz­ze auch Werk sein kann, so un­fer­tig wie sie ist. Das Buch wer­de zur dop­pel­ten Al­le­go­rie, in dem es die (Un)Fertigkeit ei­ner of­fen­ge­blie­be­nen Kor­rek­tur scham­los aus­stel­le. Ich stol­pe­re über das ers­te von zwei At­tri­bu­ten, die man Rie­dos Ar­beit zuweist.

Fra­ge: Was mei­nen die Re­zen­sen­ten und auch der Ver­lag mit der „scham­lo­sen Aus­stel­lung“ des (Un)fertigen? Soll­ten „wir“ – die Le­ser – uns für et­was schä­men – und vor wel­chem Hin­ter­grund sol­len wir uns schä­men? Las­sen Sie alle Scham fal­len, weil Sie nicht schrei­ben, wie es sich „ge­hört“?

Rie­do: Wie­so, wie „ge­hör­te“ es sich? Oder halt dies: Ich soll mich doch wirk­lich nicht schä­men, das Un­fer­ti­ge zu zei­gen: Denn wann ist et­was schon nicht „un­fer­tig‘? Das mit den Le­se­rin­nen und Le­sern ist eine ver­zwick­te Sa­che: Ei­gent­lich wäre nicht (fast) al­les, was man als Wort-Mensch so schreibt, für de­ren Au­gen. Aber ir­gend­wie muss man halt leben.

Ein zwei­tes At­tri­but ist „ver­stö­rend“… Bin er­staunt, bin kaum ver­wirrt, we­gen der Kor­rek­tu­ren nicht (kann­te ich schon aus an­de­ren Bü­chern), auf­grund der In­hal­te nicht, muss schmun­zeln (vie­le Ideen! Wenn er das al­les zu Er­zäh­lun­gen mach­te!), bin wie­der­mal be­stä­tigt: die Welt ist ver­rückt, so wie sie ist. Und nicht dazu an­ge­tan, wirk­lich hei­misch in ihr zu sein.

Fra­ge: Ist das mehr oder we­ni­ger auch das, was Sie trägt? – Was Sie hier „an­sin­gen“? – Eine Welt in Auflösung?

Rie­do: Die Welt ist ver-rückt: Wenn es nur in den Bü­chern wäre, fän­de ich das äus­serst an­stre­bens­wert. Aber die Rea­li­tät … Es ist nicht zu sa­gen, was heu­te al­les „geht“. Eine Lö­sung wird kom­men: Hof­fen wir, es ist nicht eine end­gül­ti­ge. Auf dass man im­mer wie­der da­ge­gen an­sin­gen darf. Und doch alle et­was Un­ge­sun­ge­nes im Kopf­herz tra­gen können.

Das mit dem An­sin­gen ken­ne ich. Dass es in Rie­dos An­ge­sun­ge­nem vie­le Tote, Mor­de, Ra­che­ge­dan­ken gibt… eben, so ist die Welt. Ver-Rückt. In mei­nem All­tag fal­len mir just in die­ser Zeit die kur­zen, zu­sam­men­ge­dampf­ten Sym­pho­nien von Da­ri­us Mil­haud zu. Der schrieb der­glei­chen An­fang des 20. Jahr­hun­derts, ver­kürz­te mal eben eine (klas­si­sche Form) 90-mi­nü­ti­ge Sym­pho­nie in vier Sät­zen auf acht Mi­nu­ten. An­kün­di­gung un­se­rer heu­ti­gen Zeit-Not? Ein Kür­zest-Werk, aber eben auch ein Werk.

Fra­ge: „… Wie in ei­ner mu­si­ka­li­schen Struk­tur …“ – ha­ben Sie ein be­stimm­tes Stück vor Oh­ren gehabt?

Rie­do: Ei­ni­ge; aber vor al­lem meins: do re mi do ni ki … Aber es sei ge­gen­ge­fragt: Wenn ein frem­der Text in mir plötz­lich Sai­ten zum Klin­gen bringt: Sind das von Ge­burt her ein­ge­zo­ge­ne oder doch eher li­te­ra­risch vor­ge­bil­de­te? Die Fra­ge be­steht: Gibt es Lie­be zu ei­nem Text ohne Vor­kennt­nis­se (mal ab­ge­se­hen da­von, dass man das Al­pha­bet er­lernt hat und ge­wis­ses Welt­wis­sen) und/oder „Drauf-hin­auf-ge­ho­ben-Wer­den“?

Fra­ge: Wel­che Mu­sik hö­ren Sie und was ist mit der Har­mo­nie­leh­re oder Tonkunst?

Rie­do: Wie der Pa­ti­ent sa­gen wür­de: Ich bin ein Lieb­ha­ber der Ton­kunst: Vie­le tan­zen nach mei­ner Pfeife.

Kein Nach­ha­ken mei­ner­seits, aber zur Ge­gen­fra­ge fällt mir vie­les ein. Das The­ma „Mu­sik“, über das ich ger­ne wei­ter ge­fragt hät­te, bei dem ich dann auf Hin­de­mith und von ihm wei­ter auf „das Werk“ bzw. den Werks­be­griff ge­kom­men wäre, bleibt un­voll­endet. Ich su­che noch ein we­nig in der „Un­ter­wei­sung im Ton­satz“ – im Vor­wort schreibt Hin­de­mith Lehr­rei­ches zum Werks­be­griff bzw. über den Um­gang der Jün­ge­ren mit der An­wen­dung des ih­nen zur Ver­fü­gung ste­hen­den Mu­sik­werk­zeugs… Es hät­te zu Rie­dos In­ter­view mit Phil­ip­pe Bi­schof gepasst:

Facebook - Zwirbler-Roman - Glarean Magazin
Die Face­book-Com­mu­ni­ty als Schrift­stel­ler-Kol­lek­tiv: der Zwirbler-Roman

An­läss­lich ei­ner Ta­gung des Kulturministerium.ch hat­te Rie­do als Kul­tur­mi­nis­ter der Schweiz mit Phil­ip­pe Bi­schof, dem Lei­ter des Lu­zer­ner Kul­tur­hau­ses Süd­pol ein Ge­spräch ge­führt. Rie­do hat­te ge­fragt, ob die Schrift­stel­ler even­tu­ell zu eli­tär ge­wor­den sei­en und ob Thea­ter im­mer mit Schrift­stel­lern zu tun ha­ben bzw. im­mer von Schrift­stel­lern ge­schrie­ben sein müsse.
Bi­schof be­stä­tig­te, dass dies im Mo­ment (im­mer­hin schon 5 Jah­re her), tat­säch­lich im­mer we­ni­ger der Fall sei. Es gebe eine star­ke Ten­denz da­hin, dass der Au­tor nicht mehr der Schrift­stel­ler al­lein sei, son­dern die Schau­spie­ler, der Re­gis­seur, der Dra­ma­turg zu­sam­men et­was wie ei­nen Kol­lek­tiv­au­tor bil­de­ten, der auch die Leu­te draus­sen, das Pu­bli­kum und sei­ne Be­find­lich­keit und per­sön­li­chen Be­dürf­nis­se ein­be­zie­he und als do­ku­men­ta­ri­sches Thea­ter die­se au­then­tisch aufnehme.

Von der Büh­ne und den Dra­ma­ti­kern, von der Mu­sik hät­te ich zu den Schrift­stel­lern und den Bü­chern über­ge­lei­tet… Dank (preis­güns­ti­ger) E-Book-Pu­bli­ka­ti­ons­mög­lich­keit gibt es im­mer mehr Au­toren und auch im­mer mehr ziel­grup­pen­ori­en­tier­tes Schrei­ben. Da wird der Le­ser mit­ein­be­zo­gen, der Au­tor schreibt, was sein Le­ser sich von der Ge­schich­te wünscht, ja, so­gar meh­re­re Au­toren schrei­ben kol­lek­tiv an ei­ner Ge­schich­te (z.B. der Zwirb­ler-Ro­man, der ers­te Facebook-Roman).

Fra­ge: Sind die­se ei­gent­lich noch Schrift­stel­ler zu nen­nen? Was ist ein Schrift­stel­ler heu­te noch?

Rie­do: Man könn­te es über die Ge­werk­schaft de­fi­nie­ren: Beim AdS („Au­torin­nen und Au­toren der Schweiz“) wird nur auf­ge­nom­men, wer be­stimm­te Mi­ni­mal­kri­te­ri­en er­füllt. An­de­rer­seits ist „Schrift­stel­ler“ kei­ne ge­schütz­te Be­zeich­nung, war es noch nie. Und das ist viel­leicht auch gut so. Stich­wort: „Of­fen für al­les Kom­men­de“ … Der Un­ter­gang kommt früh genug …

Fra­ge: Ist Schrei­ben ein Aus­druck sei­ner selbst, oder ist Schrei­ben als Er­fül­lung der Be­dürf­nis­se an­de­rer, be­son­ders der Le­ser zu denken?

Rie­do: Das geht durch­aus Hand in Hand.

Dominik Riedo - Die Schere im Kopf - Offizin Verlag - Glarean Magazin
Do­mi­nik Rie­do: „Die Sche­re im Kopf“ – Of­fi­zin Verlag

Die Sche­re im Kopf“. Das Buch lässt mich nicht an sich her­an, ver­är­gert mich im An­le­sen – und lässt mich „im Fens­ter der Nacht des Hier­seins“ – zu­rück, mit die­sem „Her­un­ter­zäh­len“ an Wör­tern und Satz­fet­zen, bis hin zum letz­ten un­ver­ständ­li­chen Wort. Ich bin al­les an­de­re als si­cher, ob ich über­haupt ver­ste­he, wor­um es geht. An man­chen Stel­len kann ich so­gar vor Wut nicht weiterlesen.

Rie­do: Auch ich war oft wü­tend an­ge­sichts des Tex­tes. Aber er muss­te ge­schrie­ben wer­den. Und wäre es nur meinetwegen.

Fra­ge: Pro­vo­ka­ti­on? Fi­shing for Widerspruch?

Rie­do: Ne, nicht mehr … Das habe ich mit dem Kul­tur­mi­nis­te­ri­um hin­ter mir gelassen.

Fünf mal 24 Stun­den hat der Er­zäh­ler in die­sem Buch noch zu le­ben. Er liegt mit Krebs im End­sta­di­um in ei­nem Spi­tal­bett und weiss, dass die Schmer­zen trotz ver­ab­reich­ter Me­di­ka­men­te nicht mehr en­den wer­den. Den­noch fürch­tet er sich we­ni­ger vor dem elen­den Ende, ver­spürt kaum Angst vor dem na­hen­den Tod, den er in sei­nem Über­druss will­kom­men heisst.
In auf­ein­an­der­fol­gen­den Be­wusst­seins­schü­ben be­schreibt er nun sein ab­ge­leb­tes Le­ben, zer­reisst es rück­bli­ckend. Der Le­ser er­fährt, dass der Er­zäh­ler frü­her ein­mal ge­glaubt hat­te, das gros­se Werk schrei­ben zu kön­nen, dass er zwar zwei In­stru­men­te spiel­te, aber nicht ganz so mu­si­ka­lisch wie Mo­zart war. Er war Leh­rer, ein­mal so­gar Do­zent an der Uni, ar­bei­te­te im Ge­fäng­nis (wo er fest­stell­te, dass auch Ver­bre­cher sich selbst be­schwin­deln) und hat­te wei­te­re Ge­le­gen­heits­jobs. Der Le­ser er­fährt von den Frau­en. 129 sol­len es ge­we­sen sein. Bei der Ab­rech­nung über­legt der Ster­ben­de, ob es ihm ein Trost wäre, wenn alle Men­schen gleich­zei­tig mit ihm stür­ben. Frag­men­ta­risch denkt er auch – an die Schweiz, an ihre un­ver­än­der­ba­re Bür­ger­lich­keit und fasst zu­sam­men, dass ihn auch das Rei­sen an­wi­der­te, nach­dem er al­les be­reist hatte.
Wie ge­sagt: das Buch wi­der­setzt sich mir. Viel­leicht we­gen des Frag­men­ta­ri­schen, des „ge­streamt“ Ve­xier­haf­ten – Ve­xier­haf­tes ir­ri­tiert mich. Schost­a­ko­vitsch und sei­ne 15. Sym­pho­nie fal­len mir ein. Sie be­ginnt mit dem Zi­tat aus Ros­si­nis „Wil­helm Tell“-Ouvertüre. Das leich­te, lo­cke­re Le­ben en­det als­bald in Frag­men­ten und setzt sich mit dem Ster­ben aus­ein­an­der. Es ist die letz­te Sym­pho­nie des Rus­sen, er ist schwer­krank und er kom­po­niert un­ter sta­li­nis­ti­schen Be­din­gun­gen, wan­dert da­bei auf ei­nem schma­len Grat zwi­schen ideo­lo­gi­scher Ver­ein­nah­mung und künst­le­ri­scher Selbst­ver­wirk­li­chung, zwi­schen Le­ben und Tod.  Ja, Schost­a­ko­witschs Mu­sik evo­ziert Ähn­li­ches wie die „Sche­re“.

Die Sche­re im Kopf lege ich zur Sei­te. Sie schnei­det mei­ne En­er­gie und mei­nen Elan ab. Auch die Ant­wor­ten, die ich auf mei­ne ers­te Mail be­kom­me, lege ich zur Sei­te.  Jetzt spü­re ich den Hauch des Proust-Ef­fekts. Auf­schie­ben, sage ich mir. Auf­schie­ben, dann wird der rech­te Au­gen­blick kom­men. Habe auch zur Zeit mit der Ver­öf­fent­li­chung der Apho­ris­men ei­nes an­de­ren jun­gen Man­nes zu tun, fast glei­cher Jahr­gang, so­gar ähn­li­che Gedanken.

Dominik Riedo:
Do­mi­nik Rie­do: „Mein Herz heisst ‚Den­noch'“ – Pro Li­bro Verlag

Kurz vor Weih­nach­ten schickt mir der Ver­lag pro li­bro aus Lu­zern das drit­te Rie­do-Buch: „Mein Herz heisst „‚Den­noch‘ – Li­te­ra­ri­sche Por­träts“. Dar­in geht es um Schrift­stel­ler und Den­ker, die an­ders als ihre Mit­men­schen wa­ren. Die Wer­ke, die sie aus ih­rer An­ders­ar­tig­keit her­aus ge­schrie­ben ha­ben, wer­den heu­te be­wun­dert. Den Er­schaf­fen­den aber mach­te das An­ders­sein zu schaf­fen. Sie ha­der­ten mit sich, mit der Welt, mit dem ei­ge­nen Werk.  Rie­do ver­sam­melt in die­sem Buch li­te­ra­ri­sche Por­träts, die ge­wis­ser­mas­sen den Fin­ger auf die of­fe­ne Wun­de le­gen. Die Wun­de ist die der Ver­drän­gung des Ha­ders der „An­der­sei­en­den“ aus der heu­ti­gen Bewunderungsperspektive.
Sag ich doch! Mein Re­den. Vol­ler Vor­freu­de neh­me ich das Buch in die Hand und vor die Au­gen. Rie­do ist ei­ner, der Ein­zel­gän­ger zu mö­gen scheint. Sei­ne Ant­wor­ten zu sich selbst mö­gen da für ihn sprechen.

Fra­ge: „Wi­der­stand der Welt, den die­se Den­ker und Schrift­stel­ler er­fuh­ren, aber auch Wi­der­stand, den sie selbst der Welt ent­ge­gen­setz­ten, der un­be­irr­ba­re Glau­ben der Por­trä­tier­ten an das „Den­noch“ – an die Keim­zel­le der un­sterb­li­chen Li­te­ra­tur.“ Keim­zel­le? Un­sterb­li­che Literatur?

Rie­do: Un­sterb­lich, den­ke ich, ist doch prak­tisch nichts. Die Keim­zel­le je­doch steckt in mir – und bringt ihre Trie­be vor­an… Ge­gen den vor­an­ge­gan­ge­nen Gegendruck …

Fra­ge: Sind Sie ein lus­tig-me­lan­cho­li­scher Mensch oder eher ein ernst-al­ber­ner? Oder ist die Fra­ge zu persönlich?

Rie­do: Bei­des wohl, wild durch­ein­an­der. Am ehes­ten ein melancholisch-heiterer.

Fra­ge: Sie schei­nen ein Fai­ble für Ein­zel­gän­ger zu ha­ben oder sind Sie etwa selbst ei­ner? Se­hen Sie sich als einer?

Rie­do: An der Par­ty zu mei­nem 20. Ge­burts­tag ka­men 81 Gäs­te, an der zu mei­nem 40. Ge­burts­tag noch 12 …

Und jetzt kommt die Kin­ski-Klip­pe, das Fett­näpf­chen, in das ich tre­ten könn­te. Rie­do war – wie be­reits er­wähnt – für zwei Jah­re Schwei­zer Kul­tur­mi­nis­ter – ein Zeit­raum in sei­ner Bio­gra­phie, den ich na­tür­lich an­spre­chen muss.

Fra­ge: Wie kam es über­haupt zu der Idee, Kul­tur­mi­nis­ter wer­den zu wol­len, sich als Kan­di­dat zur Wahl (mit­tels In­ter­net-Wahl aus 25 Kan­di­da­tin­nen und Kan­di­da­ten) zu stellen?

Rie­do: Weil ich, beim Sprung ins kal­te Was­ser, et­was ler­nen wollte.

Fra­ge: Macht man das mal eben so? Ha­ben Sie nicht ge­nug zu tun gehabt?

Rie­do: Ich ma­che ei­gent­lich nichts „ein­fach so“.

Fra­ge: Wie ha­ben Sie die 2 Jah­re als Kul­tur­mi­nis­ter ver­än­dert? Ha­ben sie Sie verändert?

Rie­do: Oh ja!

Mei­ne zehn Fra­gen sind ge­stellt, und ich habe kein schlüs­si­ges, rund­um be­frie­di­gen­des Bild. Ich habe gar nichts und muss er­ken­nen, dass ich die fal­schen Fra­gen ge­stellt habe, und mir trotz al­len Hin- und Her­über­le­gens kein Weg ein­ge­fal­len ist, sie auf­zu­be­rei­ten. Rie­do hat mich wei­te und in­spi­rier­te Denk­we­ge zu­rück­le­gen las­sen. Aber das In­ter­view… wenn ich doch eine Tas­se Kaf­fee mit ihm trin­ken könnte!
Es er­gibt sich kei­ne Ge­le­gen­heit. Im Ge­gen­teil, ich ent­fer­ne mich räum­lich noch wei­ter von der Schweiz, fah­re in den Nor­den, sit­ze in ei­nem Bahn­hofs­re­stau­rant und – spre­che mit Riedo.

Was trin­ken wir? Kaf­fee? Wie trin­ken Sie ihn? Mit Milch und ohne Zu­cker? – Der Kaf­fee kommt. Jetzt wür­de ich sie stel­len – die wirk­lich wich­ti­gen Fragen:
01. Wann kön­nen Sie am bes­ten schreiben?
02. Wo kom­men Ih­nen so rich­tig gute Ideen?
03. Wel­che Stadt wür­den Sie ger­ne in nächs­ter Zeit besuchen?
04. Ha­ben Sie Freun­de in Deutschland?
05. Wel­chen Film ha­ben Sie kürz­lich gesehen?
06. Ha­ben Sie ei­nen Lieblingsregisseur?
07. Trin­ken Sie lie­ber Kaf­fee oder lie­ber Tee? Eine Idee, war­um das so ist?
08. Es­sen Sie ger­ne Fisch?
09. Wel­ches ist Ihre der­zei­ti­ge Lieb­lings­far­be (hat­te ich das nicht schon gefragt???)
10. Kön­nen Sie zeichnen?

Nichts mit Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­li­chem zu „Werk“ und „Frag­men­ta­ris­mus“, oder Le­bens­ab­ris­sen und Be­wusst­seins­strö­men, ge­nug des Zwei­felns an der ver­rück­ten Welt, die uns dazu bringt, ge­gen sie an­zu­schrei­ben. Wozu? Um uns ein Denk­mal zu set­zen – oder uns am Le­ben zu er­hal­ten? Wer die­ses neue In­ter­view liest, soll sich wohl­füh­len und ei­nen Men­schen se­hen, und sich dar­in wie­der­fin­den – oder auch nicht. Et­was Rie­do-haf­tes klingt in al­len von uns… und so­wohl ein Klaus Kin­ski als auch ein Dmi­t­ri Schost­a­ko­witsch wa­ren als Künst­ler und als Men­schen nicht ein­fach, noch un­um­strit­ten. Sie wa­ren an­ders. Und den­noch!

Ei­nen herz­li­chen Glück­wunsch nach­träg­lich zum Ge­burts­tag, Herr Riedo. ♦

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Dies sind die Ant­wor­ten, die mir Do­mi­nik Rie­do auf mei­ne obi­gen 10 Fra­gen gab:

01. Wenn mich an der Welt et­was stört, aber nicht in mei­nem Arbeitszimmer.
02. Beim Lesen.
03. Mar­sa­la. Ich wer­de März oder April dort sein.
04. Ja.
05. Ver­fil­mun­gen von Phil­ip K. Dick. Ich möch­te ei­nen Es­say über ihn schreiben.
06. Or­son Welles.
07. Kaf­fee. Weil ich als Kind be­reits Moc­ca-Gla­cé über al­les lieb­te. Aber war­um das? Kei­ne Ahnung.
08. Ich bin Vegetarier.
09. Schwarz.
10. Ich konn­te es mal ganz gut und habe Freun­din­nen da­mit „be­schenkt“. Heu­te hab ich das et­was verloren.


Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin auch über Do­mi­nik Rie­do: Nur das Le­ben war dann an­ders (Ne­kro­log auf mei­nen pä­do­phi­len Vater)

… so­wie das In­ter­view mit der Best­sel­ler-Au­torin Re­bec­ca Gab­lé („Der dunk­le Thron“)

Ein Kommentar

  1. Be­ein­dru­ckend – ein In­ter­view ohne per­sön­li­ches Gegenüber
    Das be­nö­tig ab­so­lut gute fan­ta­sie­vol­le Vor­be­rei­tung! Kom­pli­ment für das Gelingen.

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