Rolf Stolz: Die Kultur-Utopie Europa (Essay)

Neue Kultur – Volkskultur?

Selbstbestimmung in einem anderen Europa

Rolf Stolz

Vorbemerkung

Schon die im Ti­tel die­ses Tex­tes ver­wen­de­ten Be­grif­fe wird man als vage und mehr­deu­tig be­zeich­nen. Sie sind es, und dass sie es sind, ist not­wen­dig, um die Be­deu­tun­gen und Spiel­ar­ten hin­läng­lich be­schrei­ben zu kön­nen, in de­nen sich Kul­tur heu­te er­eig­net – in die­sem Kon­ti­nent, der un­frei­wil­lig der in­ter­na­tio­nals­te, der am we­nigs­ten re­gio­nal und pro­vin­zi­ell ge­präg­te, der ver­floch­ten­s­te und trotz sei­ner öko­no­mi­schen Po­tenz und re­la­ti­ven po­li­ti­schen Stär­ke der kul­tu­rell am we­nigs­ten selbst­be­stimm­te der fünf be­wohn­ten Kon­ti­nen­te ist.
„Neue Kul­tur“ be­zeich­net nicht ein­fach das ge­ra­de eben mit kul­tu­rel­lem An­spruch ins Werk Ge­setz­te. „Volks­kul­tur“ be­zieht sich nicht auf die tou­ris­tisch in­spi­rier­ten Dar­bie­tun­gen al­ter Leu­te in al­ten Kos­tü­men. „Neue Kul­tur“ um­schliesst all die viel­ge­stal­ti­gen, tas­ten­den Ver­su­che ei­ner neu­en Be­we­gung, ihre ei­ge­nen Er­fah­run­gen und ihr mo­men­ta­nes Bild ei­ner an­de­ren Welt­ord­nung zu ver­ge­gen­ständ­li­chen. Die­se un­ver­brauch­te, in vie­lem noch un­ent­wi­ckel­te und ge­stalt­lo­se Kul­tur fin­det ihr Ge­gen­stück – halb Spie­gel­bild, halb Ant­ago­nis­mus – in ei­ner Volks­kul­tur, die aus zer­stör­ten Res­ten auf­scheint oder sich neu ent­zün­det an po­pu­lä­ren Ge­füh­len, an Kämp­fen und Identifikationen.

Alternativ und avantgardistisch

Eine al­ter­na­ti­ve Kul­tur kann sich nicht da­mit ab­ge­ben, den Men­schen zu sa­gen, was sie längst wis­sen und tun. Sie muss avant­gar­dis­tisch sein, sie muss ei­nen Schritt vor­aus sein oder auch ei­ni­ge Schrit­te, und sie darf nicht ge­mes­sen wer­den am so­ge­nann­ten ge­sun­den Menschenverstand.

Wolf Vostell Elektronischer dé coll age 1968 - Glarean Magazin
Wi­der die „Ehe­dra­men und Klei­ne-Leu­te-Ge­schich­ten“: Wolf Vostell mit sei­ner „Elek­tro­ni­schen dé coll age“ 1968

Eine der er­bärm­lichs­ten Sa­chen ist es, wenn so­ge­nann­te Lin­ke sich nicht zu scha­de sind, das auf den Hund ge­kom­me­ne Volks­emp­fin­den zu Hil­fe zu ru­fen ge­gen all das, was sie nicht ver­ste­hen kön­nen und nicht ver­ste­hen wol­len. Na­tür­lich gibt es auch Pseu­do-Avant­gar­dis­mus, gibt es Schar­la­ta­ne­rie und se­ri­el­les Kunst­ge­wer­be, wo ein Otto Her­bert Ha­jek so im­po­tent ist wie einst­mals ein Ber­nard Buf­fet. Na­tür­lich ist nicht die Hal­tung der kri­tik­lo­sen Be­wun­de­rung – platt auf den Bauch, die Au­gen fest ge­schlos­sen – ge­for­dert, also jene ser­vi­le Mu­se­ums­wäch­ter-Men­ta­li­tät, die schon auf­schreit, wenn je­mand un­er­laub­ter­wei­se eine Beuys­sche Stahl­rohr­kon­struk­ti­on berührt.
Aber es ist eben ein­fach dar­an fest­zu­hal­ten, dass ein Vostell in sei­nen Flu­xus-Con­tai­nern mehr trans­por­tiert an Ge­gen­wart und an Zu­kunft als gan­ze Gü­ter­zü­ge vol­ler Spät­im­pres­sio­nis­mus und „so­zia­lis­ti­schem Rea­lis­mus“. Die blei­ern schwe­ren Grab­fi­gu­ren, der mes­ser­ge­spick­te Hund im ro­ten Pfef­fer­staub – das ist viel nä­her dran an un­se­ren wirk­li­chen Pro­ble­men als all die Ehe­dra­men und Klei­ne-Leu­te-Ge­schich­ten, als all die en­ga­gier­te Künst­lich­keit der Arbeitnehmer-Reportagen.

Den Künstlern die Freiheit lassen, so zu sein, wie sie sind

Über­haupt soll­ten wir uns lö­sen von der Dok­trin, dass der Künst­ler ge­fäl­ligst als zu­gleich ge­nia­ler und brav pro­gres­si­ver Kul­tur­schaf­fen­der ein wa­cke­rer Ge­werk­schaf­ter, ein zu­ver­läs­si­ger Par­tei­mann, ein kon­se­quen­ter Re­vo­lu­ti­ons­as­ket zu sein habe. Wir müs­sen uns frei­ma­chen von die­sen Fik­tio­nen, wir müs­sen den Künst­lern und der Kunst die Frei­heit las­sen, so zu sein, wie sie sind – eine to­ta­le, schran­ken­lo­se Frei­heit, nicht eine hal­be und kas­trier­te im Sin­ne ei­ner re­gie­rungs­of­fi­zi­el­len so­wje­ti­schen Bro­schü­re aus der Bre­sch­new-Ära, in der es heisst: „Schrift­stel­ler, Ma­ler oder Re­gis­seu­re sind in ih­rem Schaf­fen frei. Es gibt we­der ver­bo­te­ne For­men noch ver­bo­te­ne The­men. Das Prin­zip der Schaf­fens­frei­heit ist je­doch mit An­schlä­gen auf die Le­bens­in­ter­es­sen der Ge­sell­schaft und der Werk­tä­ti­gen un­ver­ein­bar. Die Ge­sell­schaft lässt we­der die Pro­pa­gan­da des Krie­ges zu noch das Schü­ren von ras­sis­ti­scher oder re­li­giö­ser Feind­schaft, sie ver­bie­tet die Ver­brei­tung von Por­no­gra­phie oder Wer­ken, die von an­ti­hu­ma­nem, an­ti­so­zia­lis­ti­schem Geist durch­drun­gen sind.“ (Pres­se­agen­tur No­wos­ti „Jahr­buch UdSSR 1984“, APN-Ver­lag, Mos­kau 1984).

Die Kunst zu widersprechen – die Widersprüche der Kunst

Man wird ak­zep­tie­ren müs­sen, dass Künst­ler nicht im­mer He­ro­en sind, son­dern al­les und je­des: Kle­ri­ka­le Spin­ner die ei­nen, ängst­li­che Psy­cho­pa­then die an­de­ren, bru­ta­le Sauf­bol­de oder pro­sa­ische Buch­hal­ter, geld­gie­ri­ge Bon­vi­vants oder rach­süch­ti­ge Men­schen­fein­de. Man wird ak­zep­tie­ren müs­sen, dass Künst­ler kei­ne Vor­bil­der sind. Man wird ak­zep­tie­ren müs­sen, dass et­li­che Künst­ler nicht „“links, wo das Herz ist“, ih­ren Platz ge­habt ha­ben, son­dern auf der an­de­ren Sei­te der Frontlinie.

Faschist und genialer Lyriker: Ezra Pound (1885-1972)
Fa­schist und ge­nia­ler Ly­ri­ker: Ezra Pound (1885-1972)

Dass Ezra Pound ein Sym­pa­thi­sant der ita­lie­ni­schen Fa­schis­ten war, hat nicht ver­hin­dert, dass er ei­ner der gröss­ten Ly­ri­ker die­ses Jahr­hun­derts war und blieb. Ge­ra­de in Deutsch­land ist ein na­tio­na­ler Kon­sens nö­tig dar­über, wel­che der in den Fa­schis­mus ver­strick­ten Künst­ler wir auf den Sperr­müll der Ge­schich­te wer­fen soll­ten und wel­che nicht.

Unwissenheit und Ohnmacht

In ei­ner längst nicht mehr eu­ro­pä­isch zen­trier­ten und sich ra­pi­de wan­deln­den Welt wäre es not­wen­dig, dass bei ei­ner Pflicht­schul­zeit von zwölf oder drei­zehn Jah­ren je­der, der nicht lern­be­hin­dert ist, also auch je­der heu­ti­ge „Haupt­schü­ler“ am Ende zwei Welt­spra­chen flies­send spricht, ge­schicht­li­che, po­li­ti­sche und geo­gra­phi­sche Zu­sam­men­hän­ge kennt, die Grund­zü­ge ma­the­ma­ti­schen und phi­lo­so­phi­schen Den­kens be­greift, die ele­men­ta­ren Er­kennt­nis­se der mo­der­nen Na­tur­wis­sen­schaf­ten zu­min­dest in me­ta­pho­ri­scher Form nach­voll­zo­gen hat, das Hand­werk­li­che der Kunst ken­nen­ge­lernt und in krea­ti­ver, selbst­be­stimm­ter Ar­beit zu ei­gen­stän­di­ger Ge­stal­tung ge­fun­den hat, meh­re­re Sport­ar­ten be­herrscht, so­wie ge­lernt hat, wie in Fa­bri­ken und La­bors, in Hand­werks­be­trie­ben und in der Land­wirt­schaft die Hän­de und der Kopf ge­braucht werden.
Na­tür­lich, das ist eine Uto­pie. Aber eine vom Gang der Ge­schich­te dik­tier­te, der die eu­ro­päi­schen Län­der nur um den Preis ih­res kul­tu­rel­len und wirt­schaft­li­chen Zu­rück­blei­bens aus­wei­chen kön­nen. Die­se Uto­pie zu ver­wirk­li­chen wird nicht nur gros­se Geld­sum­men, son­dern auch Schweiss und Trä­nen und den Ver­zicht auf lieb­ge­wor­de­ne Vor­ur­tei­le kosten.

Für das, was anders ist

Wir müs­sen die Ver­schie­den­ar­tig­keit, die Ei­gen­ar­tig­keit, die Ein­zig­ar­tig­keit, das be­son­de­re Ge­sicht un­se­rer ei­ge­nen Kul­tur ver­tei­di­gen – die in al­ler Ver­mi­schung un­ver­tausch­ba­re und un­über­trag­ba­re Ein­zel­exis­tenz, das Phä­no­ty­pi­sche. Es ist eine Ent­schei­dung, die wir zu tref­fen ha­ben: Wol­len wir eine von al­len na­tio­na­len Ex­zen­tri­zi­tä­ten ge­rei­nig­te, je­den Be­zug auf das ei­ge­ne Land ängst­lich ver­mei­den­de Kul­tur, die in Mel­bourne und in Mün­chen, in Van­cou­ver und in Frank­furt die eine, ewig glei­che, un­ter­schieds­lo­se Welt­kunst (oder ihre eu­ro­pä­isch-abend­län­di­sche Va­ri­an­te) in­sze­niert? Wol­len wir eine Kul­tur, die den Cha­rak­ter ih­rer Cha­rak­ter­lo­sig­keit be­zieht aus der fröh­li­chen Be­fol­gung von glo­ba­len Markt­ge­set­zen und in­ter­na­tio­nal gül­ti­gen Sebst­ver­stüm­me­lungs-Me­cha­nis­men – oder wol­len wir eine aus den nur be­grenzt mit­ein­an­der ver­bun­de­nen, nur be­grenzt ver­mit­tel­ba­ren Son­der­kul­tu­ren all der vie­len Völ­ker ent­ste­hen­de Welt­kul­tur, in der das ei­ni­gen­de Band sehr lose und sehr äus­ser­lich ist und so ver­schwin­det wie ein Fa­den, der un­ter den vie­len bun­ten Blu­men fast un­sicht­bar bleibt und doch das Ge­bin­de zu­sam­men­bringt? Ich plä­die­re für eine bei al­ler wech­sel­sei­ti­gen Be­ein­flus­sung und Be­fruch­tung un­auf­heb­ba­re Schran­ke zwi­schen den Kul­tu­ren, für eine deut­sche und eine spa­ni­sche und eine fran­zö­si­sche Kul­tur statt ei­nes Ein­heits­breis nach Europa-Norm.

„Spanier=hochmütig, wun­der­lich, ehr­bar; Deutsche=offenherzig, wit­zig, un­über­wind­lich“: Die Eu­ro­päi­sche Völ­ker­ta­fel, Öl­ge­mäl­de Stei­er­mark, frü­hes 18. Jh.

Dies be­deu­tet na­tür­lich ein Ab­kop­peln von ei­ner als un­auf­halt­sam dar­ge­stell­ten „all­ge­mei­nen Ent­wick­lung“, von der zwang­haft auf Uni­for­mi­tät und Ver­fla­chung ab­ge­rich­te­ten Wan­der­büh­nen­kunst, de­ren Hei­mat das Nir­gend­wo und de­ren letz­ter Grund das Ge­schäf­te­ma­chen ist. Dies be­deu­tet ein Aus­klin­ken aus den ak­tu­el­len „Sach­zwän­gen“, mit de­nen das all­sei­ti­ge An­glei­chen, Ab­schlei­fen und Ver­fla­chen er­reicht wer­den soll. Die Zer­stö­rung des Be­son­de­ren je­der Kul­tur im heu­ti­gen frei­en Wes­ten hat ihre un­über­seh­ba­re Par­al­le­le in der Zer­stö­rung der viel­ge­stal­ti­gen na­tür­li­chen Öko­to­pe wie in der Zer­stö­rung ge­wach­se­ner Stadt­teil­struk­tu­ren. Das tris­te Ei­ner­lei der durch Emis­sio­nen, Kul­ti­vie­rung und frei­zeit­ge­rech­te Ab­nut­zung ster­ben­den Wäl­der, die tod­trau­ri­ge Lang­wei­lig­keit der wu­chern­den Hoch­haus- und Rei­hen­haus­ge­schwuls­te – all das wächst auf dem­sel­ben Bo­den wie die Ver­mark­tung der Kul­tur und ihre in­dus­tri­el­le Ver­ar­bei­tung zu ge­schmacks­neu­tra­len Ap­pe­tit­hap­pen. Die Macht, die die Na­tur und die Men­schen zu­grun­de rich­tet, ist die­sel­be, die die mensch­li­chen Schöp­fun­gen zu ver­nich­ten sucht: Eine zen­tra­lis­ti­sche, mo­no­po­lis­ti­sche, in­dus­tria­lis­ti­sche Le­bens- und Ar­beits­struk­tur, die sich in Herr­schafts­ord­nun­gen und Wirt­schafts­for­men, in Denk­ge­wohn­hei­ten und Herr­scher­fi­gu­ren ver­kör­pert, wel­che – je mehr sie mit­ein­an­der in Ver­tei­lungs­kämp­fe ge­ra­ten – sich um so ähn­li­cher werden.

Was Europa sein könnte

“Kleineuropa der Bürokraten und ihres parlamentarischen Begleitorchesters”: Die EU-Kommission in Brüssel
“Klein­eu­ro­pa der Bü­ro­kra­ten und ih­res par­la­men­ta­ri­schen Be­gleit­or­ches­ters”: Die EU-Kom­mis­si­on in Brüssel

Wir wol­len eine re­gio­na­lis­ti­sche Kul­tur der Völ­ker in ei­nem Eu­ro­pa, das nicht das Klein­eu­ro­pa der Euro-Bü­ro­kra­ten und ih­res par­la­men­ta­ri­schen Be­gleit­or­ches­ters ist, son­dern je­nes gros­se und gross­ar­ti­ge Ge­samt­eu­ro­pa, das vom Bos­po­rus bis Spitz­ber­gen, von Gi­bral­tar bis zum Ural reicht, zu dem all die klei­nen, von den Gross­macht­po­li­ti­kern eben­so un­ter­schätz­ten wie un­ter­drück­ten Völ­ker ge­hö­ren, ob heu­te in ei­nem ei­ge­nen Staat le­bend wie Al­ba­ner und Fin­nen oder noch in ei­nem frem­den Staats­ver­band ein­ge­pfercht wie Bas­ken und Kor­sen, ein Ge­samt­eu­ro­pa, das all die in ei­nen an­de­ren Kon­ti­nent hin­über­rei­chen­den hal­b­eu­ro­päi­schen Brü­cken- und Zwi­schen-Län­der (die So­wjet­uni­on, die Tür­kei, Zy­pern, Mal­ta, Grön­land) – zu Aus­tausch und en­ger Ko­ope­ra­ti­on auf­ruft und den aus­ser­eu­ro­päi­schen Mäch­ten USA und Ka­na­da den kos­ten­lo­sen Heim­trans­port ih­rer Sol­da­ten und Ver­nich­tungs­waf­fen spendiert.
Ein sol­ches Eu­ro­pa wird sich frei­ma­chen von der eng­stir­ni­gen Fi­xie­rung auf ein christ­ka­tho­li­sches Abend­län­der­tum, es wird die wi­der­sprüch­li­che Ver­mi­schung der Eth­ni­en, und Kul­tu­ren in der eu­ro­päi­schen Ge­schich­te be­wusst auf­grei­fen als Chan­ce für Viel­ge­stal­tig­keit und For­men­reich­tum. Es wird we­der ro­ma­nisch noch ger­ma­nisch sein, we­der sla­wisch noch „nor­disch“, es wird eben­so eine Ba­lan­ce sei­ner kul­tu­rel­len Bil­dungs­ele­men­te er­mög­li­chen wie ein po­li­ti­sches Gleich­ge­wicht der Mäch­te­grup­pie­run­gen. Eu­ro­pa hat eine Chan­ce zu über­le­ben, wenn es sich po­li­tisch, wirt­schaft­lich und mi­li­tä­risch ab­kop­pelt von den USA, wenn es aus der Di­stanz der Nicht-Pakt­ge­bun­den­heit her­aus eine Mitt­ler­rol­le ein­nimmt – zwi­schen Wes­ten und Os­ten, zwi­schen Nord­ame­ri­ka und Asi­en, zwi­schen „ers­ter“ und „drit­ter“ Welt.
Zu die­ser Un­ab­hän­gig­keit ge­hört aber auch, dass Eu­ro­pa nicht län­ger sich der ame­ri­ka­ni­schen kul­tu­rel­len He­ge­mo­nie beugt, die – ohne dass po­li­ti­scher Druck und mi­li­tä­ri­sche Er­pres­sung hin­zu­tre­ten müss­ten – al­lein durch den Selbst­lauf der tech­no­lo­gi­schen Ent­wick­lung im­mer wei­ter an­wächst: Als Kom­mer­zia­li­sie­rung, als Tri­via­li­sie­rung, als Scha­blo­ni­sie­rung, von den Wer­be­my­then bis hin zu den Schnell­re­stau­rants, von den Sei­fen­opern bis hin zur elek­tro­ni­schen Kinderstube.

Was verteidigen wir, was geben wir auf?

Weisse Häuser in Andalusien - Spanien - Glarean Magazin
„Kei­ne Tra­di­ti­on auf­ge­ben, die le­bens­fä­hig ist“: Weis­se Häu­ser in An­da­lu­si­en (Spa­ni­en)

Was heisst das kon­kret, für vie­le Ein­zel­kul­tu­ren der eu­ro­päi­schen Völ­ker statt für die Chi­mä­re ei­ner ein­heit­li­chen „Eu­ro­pa-Kul­tur“ ein­zu­tre­ten? Es be­deu­tet zu­nächst ein­mal, nichts, was le­bens­fä­hig ist, auf­zu­ge­ben aus den lo­ka­len, re­gio­na­len und na­tio­na­len Tra­di­tio­nen, son­dern es zu be­wah­ren und zu er­neu­ern: Die bun­ten Häu­ser Por­tu­gals und die weis­sen An­da­lu­si­ens, die Fach­werk-, Schie­fer- und Bruch­stein­häu­ser Deutsch­lands, das „un­mög­li­che“ zun­gen­bre­che­ri­sche Wa­li­sisch, die grie­chi­sche und die ky­ril­li­sche Schrift, Trach­ten und Tän­ze und Volks­mu­sik, bay­ri­sches Brauch­tum und die Ri­ten der un­christ­li­chen Abend­län­der (der Mo­ham­me­da­ner auf dem Bal­kan), die ei­ge­ne Li­te­ra­tur der bal­ti­schen Völ­ker oder der al­ba­ni­schen Min­der­heit in Ita­li­en, die den Zen­tra­lis­ten ver­hass­te und als Se­pa­ra­tis­mus ver­däch­ti­ge Wie­der­be­le­bung ei­ner el­säs­si­schen oder ka­ta­la­ni­schen oder so­wje­ti­schen Identität…
Aber es geht um mehr als um ein Kon­ser­vie­ren und Re­stau­rie­ren. Not­wen­dig sind Kul­tu­ren, die neue Schöp­fun­gen her­vor­brin­gen und neue Tra­di­tio­nen be­grün­den, die das mo­der­ne Le­ben der Völ­ker zum Le­ben brin­gen in Kunst­wer­ken, die mehr sind als Ko­pien oder spä­te Nach­klän­ge der al­ten Meis­ter. Eine sol­che Kunst muss not­wen­dig avant­gar­dis­tisch sein, sie kann nicht spe­ku­lie­ren auf un­mit­tel­ba­re Nach­voll­zieh­bar­keit und Ver­ständ­lich­keit. So wie wir in der Päd­ago­gik die Dok­tri­nen des Lais­ser fai­re und der An­pas­sung ans je­weils nied­rigs­te Ni­veau, die An­be­tung der spon­ta­nen Igno­ranz und die Ori­en­tie­rung am Flach­kopf und am Faul­pelz end­lich über­win­den und der ver­dien­ten Lä­cher­lich­keit preis­ge­ben soll­ten, so ist auch auf kul­tu­rel­lem Ge­biet ein fun­da­men­ta­les Um­den­ken an der Zeit. Es muss in die Köp­fe hin­ein, dass ein Kunst­werk sich im­mer wie­der der Ver­ein­nah­mung und Ver­eindeu­ti­gung ent­zieht, dass Ehr­furcht und Schwei­gen an­ge­brach­ter sind als in­ter­pre­tie­ren­des Ge­fa­sel, dass das Ver­ste­hen ei­nes Kunst­wer­kes nur aus der Di­stanz mög­lich ist, dass die­ses Ver­ste­hen mit geis­ti­gen An­stren­gun­gen, mit Ar­beit, mit in­ne­ren Kämp­fen und Schmer­zen, mit Ri­si­ken und mit Sich-Be­wäh­ren zu tun hat.

Das Feuer auf die Erde!

Göttin Europa, gestützt von Afrika und Amerika (William Blake, 1796)
Göt­tin Eu­ro­pa, ge­stützt von Afri­ka und Ame­ri­ka (Wil­liam Bla­ke, 1796)

Dort, wo sich wirk­lich et­was ab­spielt, wo Bü­cher mehr sind als Pa­pier­kram, wo Ma­ler mehr voll­brin­gen als ge­ho­be­ne An­strei­che­rei, wo die Mu­sik die Dä­mo­nen und die Göt­ter be­schwört, dort ist eine Chan­ce für den schöp­fe­ri­schen Men­schen, sich vom Wie­der­käu­en der Rea­li­tät zu lö­sen, sich aus den Zwangs­ge­dan­ken des Foto-Rea­lis­mus zu be­frei­en und das Feu­er auf die Erde zu brin­gen, das eben­so ge­mein­ge­fähr­lich wie schön ist.
So wie die mo­der­nen Aben­teu­rer aus dem Bann­kreis der be­gra­dig­ten Flüs­se, mö­blier­ten Wäl­der und seil­bahn­erschlos­se­nen Ber­ge flüch­ten, das Un­kal­ku­lier­ba­re, den Tanz auf dem Seil su­chen und den mög­li­chen Tod der si­che­ren Lan­ge­wei­le vor­zie­hen, so stei­gen die Künst­ler aus dem ver­mark­te­ten, re­gle­men­tier­ten, kor­rum­pier­ten und keim­frei­en Kul­tur­be­trieb aus – across the ri­ver and into the trees.
Na­tür­lich ist dies eine ro­man­ti­sche At­ti­tü­de, na­tür­lich ist dies Flucht und Ver­wei­ge­rung, aber es ist über­le­bens­not­wen­dig, wenn man der geis­ti­gen Ver­ödung, Ver­step­pung und Ver­wüs­tung, der Platt­wal­zung und Ru­hig­stel­lung ent­ge­hen will. Ob stil­ler Rück­zug in ein Reich, das nicht von die­ser Welt ist, ob ag­gres­si­ve Auf­kün­di­gung des Mit­spiel-En­ga­ge­ments, ob Ge­gen-Of­fen­si­ve oder au­tis­ti­sche Ab­kehr – in je­dem Fall geht es dar­um, sich nicht als Quis­ling der kul­tu­rel­len Ni­vel­lie­rung und Ver­blö­dung zur Ver­fü­gung zu stel­len. Es geht dar­um, frei zu blei­ben, un­be­stech­lich und souverän. ♦


Rolf StolzRolf Stolz

Geb. 1949 in Mühlheim/D, Stu­di­um der Psy­cho­lo­gie in Tü­bin­gen und Köln, zahl­rei­che fach­wis­sen­schaft­li­che und bel­le­tris­ti­sche Pu­bli­ka­tio­nen in Bü­chern und Zeit­schrif­ten, frü­her SDS-Ak­ti­vist, Mit­be­grün­der der Grü­nen Deutsch­land, um­fang­rei­che fo­to­künst­le­ri­sche Ar­beit, lebt in Köln

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Fremd-Kul­tu­ren auch den po­li­ti­schen Es­say von Pe­ter Fahr: Zum Ras­sis­mus in der Schweiz
… so­wie zum The­ma Fremd­kul­tu­ren über Amen­eh Bah­r­a­mi: Auge um Auge (Is­la­mis­mus)

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