Interview mit dem Komponisten Fabian Müller

Neue Musik?

Interview: Margaret Jardas

Der Zür­cher Kom­po­nist Fa­bi­an Mül­ler, stu­dier­ter Kon­zert-Cel­list, pas­sio­nier­ter CH-Volks­mu­sik-For­scher und frü­her viel­jäh­ri­ger Be­glei­ter der Tes­si­ner Sän­ge­rin „La Lupa“, zählt mitt­ler­wei­le zu den er­folg­reich­reichs­ten und viel­sei­tigs­ten Schwei­zer Ton­schöp­fern der jün­ge­ren Ge­ne­ra­ti­on. Da er sich, wie er sich selbst cha­rak­te­ri­siert, „nie ir­gend­wel­chen Schu­len oder Glau­bens-Sät­zen ver­pflich­tet fühlt“, und „in­tel­lek­tu­ell ent­wor­fe­ne Kon­zep­te, de­nen die Mu­sik fol­gen soll“, nicht sein Aus­gangs­punkt beim Kom­po­nie­ren sind, schlieβt sein bis­he­ri­ges Oeu­vre mo­der­nis­ti­sche Ele­men­te eben­so ein wie tra­di­tio­nel­le. Sei­ne Wer­ke „schöp­fen ganz aus der in­tui­ti­ven Frei­heit“ (Mül­ler).

Fabian Müller - Glarean Magazin
Fa­bi­an Mül­ler (geb. 1964)

Im Früh­jahr 2001 nahm Da­vid Zin­man zu­sam­men mit dem Phil­har­mo­nia Or­ches­tra Lon­don eine CD mit Wer­ken von Fa­bi­an Mül­ler auf. Eine Pro­duk­ti­on, die sich für das wei­te­re Schaf­fen des jun­gen Zür­cher Kom­po­nis­ten als sehr frucht­bar er­wei­sen sollte.
Die Kunst­his­to­ri­ke­rin, Au­torin und Kul­tur­jour­na­lis­tin Mar­ga­ret Jar­das führ­te vor ei­ni­ger Zeit mit Fa­bi­an Mül­ler ein Ge­spräch, das wir hier (mit freund­li­cher Ge­neh­mi­gung des Kom­po­nis­ten) aus­zugs­wei­se wiedergeben.

Mar­ga­ret Jar­das: Ihre Wer­ke knüp­fen ir­gend­wie an die Klang­welt des Im­pres­sio­nis­mus an. Bei neu­er Mu­sik er­war­te ich ei­gent­lich ganz an­de­re Klän­ge. Kom­po­nis­ten, die sich auf die eine oder an­de­re Art von der Avant­gar­de ab­ge­wen­det ha­ben, schrei­ben mehr oder we­ni­ger to­na­le Mu­sik. Ist das nicht ein Schritt zu­rück? Darf man da über­haupt von neu­er Mu­sik sprechen?

Fa­bi­an Mül­ler: Was ge­nau heiβt „neu“? Man muss sich heut­zu­ta­ge ge­nau über­le­gen, was die­ses Wort be­deu­tet, was denn über­haupt „neu“ sein kann. In­halt­lich hat sich über die Jahr­hun­der­te nicht viel ge­än­dert. Es geht im­mer noch um Lie­be, Schmerz und Tod, um die Pa­let­te von Ge­füh­len und Er­fah­run­gen, die in der Kunst all­ge­mein und spe­zi­ell eben auch in der Mu­sik zum Aus­druck kom­men. Des­halb ist die Fra­ge nach Neu­em vor al­lem die Fra­ge nach neu­en Aus­drucks­mit­teln. Das ist eine Fra­ge des Stils, und im Hin­blick auf den Stil gab es na­tür­lich eine be­acht­li­che Ent­wick­lung in den ver­gan­ge­nen Jahr­hun­der­ten. Ich ver­ste­he die Ent­wick­lun­gen der Mu­sik­ge­schich­te als stän­di­ge Er­wei­te­rung der klang­li­chen Möglichkeiten.

Die klangliche Entwicklung der Orchester-Instrumente ist abgeschlossen

Was her­kömm­li­che In­stru­men­te un­se­res Or­ches­ters be­trifft, muss man sa­gen, dass die­se Ent­wick­lung in­zwi­schen ab­ge­schlos­sen ist. Auf der Gei­ge gibt es kei­nen re­le­van­ten neu­en Klang zu ent­de­cken, der nicht be­reits vor Jahr­zehn­ten ver­wen­det wur­de. Ein Kom­po­nist, der heu­te meint, sei­ne Mu­sik sei neu, weil sein Stück für Gei­ge solo auf den „nor­ma­len“ Gei­gen­klang ver­zich­tet und aus lau­ter Spe­zi­al­ef­fek­ten be­steht, der ist ent­we­der naiv oder macht sich et­was vor. Es gibt kei­nen Klang auf die­sen In­stru­men­ten, der nicht be­reits in den 50er- und 60er-Jah­ren aus­ge­lo­tet wur­de. Wer also für die­se In­stru­men­te kom­po­niert, schreibt hin­sicht­lich der „Ma­te­ri­al­fra­ge“ nicht ei­gent­lich „neue“ Musik.

Man muss sich des­halb ernst­haft fra­gen, wes­sen Mu­sik denn heu­te „neu“ ist: Die­je­ni­ge, wel­che die Er­war­tungs­hal­tung der Avant­gar­de-Krei­se er­füllt, oder jene, die die­se – wie auch im­mer – durch­bricht und et­was an­de­res versucht.

Ich glau­be, der Ein­satz des Ge­räu­sches zur Her­stel­lung wird zu­neh­men, bis wir zu ei­ner Mu­sik ge­lan­gen, die mit Hil­fe elek­tro­ni­scher In­stru­men­te pro­du­ziert wird, die uns sämt­li­che Klän­ge, die das Ge­hör wahr­neh­men kann, zur Ver­fü­gung stel­len wird. – Bis ich ster­be, wird es Ge­räu­sche ge­ben. Und die­se wer­den mei­nen Tod über­dau­ern. Man braucht kei­ne Angst um die Zu­kunft der Mu­sik zu haben.“
John Cage, Kom­po­nist von „433“

Die jüngere Generation ist frei zu schreiben was sie will

Da­bei ist es si­cher nicht in­ter­es­sant, Sti­le aus der Ver­gan­gen­heit zu ko­pie­ren. Ich glau­be viel mehr, dass die jün­ge­re Ge­ne­ra­ti­on sich ein­fach die Frei­heit her­aus­nimmt zu schrei­ben, was sie will, und eine mei­ner Mei­nung nach ge­sun­de Rück­sichts­lo­sig­keit an den Tag legt ge­gen­über den Avant­gar­de-Krei­sen, die ge­nau zu wis­sen schei­nen, wie es ge­gen­wär­tig klin­gen muss. Wenn man Leu­te aus die­sen Krei­sen et­was ge­nau­er aus­fragt, was sie denn bei neu­er Mu­sik für Hö­rer­war­tun­gen ha­ben, stellt sich her­aus, dass es sich um sti­lis­ti­sche und klang­li­che Ele­men­te han­delt, die kei­nes­wegs neu sind und vor 40 Jah­ren noch Pro­vo­ka­ti­on wa­ren, heu­te aber längst der Ver­gan­gen­heit angehören.

Ich ge­hö­re auf kei­nen Fall zu de­nen, die die Ent­wick­lun­gen der letz­ten Jahr­zehn­te für ei­nen Irr­weg hal­ten. Es gibt vie­le Kom­po­nis­ten und Kom­po­nis­tin­nen die­ser Zeit, die groβ­ar­ti­ge Mu­sik ge­schrie­ben ha­ben oder im­mer noch schrei­ben und die ich sehr schät­ze. Das 20. Jahr­hun­dert hat der Kunst­mu­sik eine un­ge­heu­re Be­frei­ung ge­bracht. Die­se Frei­heit un­ver­krampft und un­dog­ma­tisch zu nüt­zen, und al­les bis­her mu­si­ka­lisch Ent­deck­te zu ei­ner per­sön­li­chen Syn­the­se zu brin­gen, das ist mei­ner Mei­nung nach die mo­men­ta­ne Her­aus­for­de­rung für Komponierende.

MJ: Sie glau­ben also an eine Zu­kunft der Kunst­mu­sik. Was kann denn Ih­rer Mei­nung nach noch „neu“ sein?

FM: Wer heu­te noch nach neu­en Klän­gen sucht, muss die­se ehr­li­cher­wei­se in der Elek­tro­nik su­chen oder nach neu­en akus­ti­schen In­stru­men­ten-Er­fin­dun­gen Aus­schau halten.

Herbert Eimert (1897-1972)
Her­bert Ei­mert (1897-1972)

Als of­fi­zi­el­les Ge­burts­da­tum der elek­tro­ni­schen Mu­sik gilt der 26. Mai 1953. Auf dem vom Nord­west-Deut­schen Rund­funk or­ga­ni­sier­ten Köl­ner „Neu­en Mu­sik­fest“ 1953 wur­den vier ers­te Stü­cke von Ro­bert Bey­er und Her­bert Ei­mert (Link: You­tube-Vi­deo zu „Ton­ge­mi­sche“) zuvorgestellt.
Wer­ner Mey­er-Epp­ler  zur De­fi­ni­ti­on: „Mu­sik ist nicht schon dann ‚elek­tro­nisch‘ zu nen­nen, wenn sie sich elek­tro­ni­scher Hilfs­mit­tel be­dient, da es hier­zu kei­nes­wegs ge­nügt, die be­reits vor­han­de­ne Ton­welt oder gar eine be­stehen­de Mu­sik ins Elek­tro-Akus­ti­sche zu übertragen.“
Im glei­chen Jahr stell­te
Karl­heinz Stock­hausen sei­ne „Stu­die I“ (Link: You­tube-Vi­deo) fer­tig, die nur aus Si­nus­tö­nen zu­sam­men­ge­setzt war und als das ers­te rea­li­sier­te Stück auch den theo­re­ti­schen In­ten­tio­nen der elek­tro­ni­schen Mu­sik entsprach.

Mit ei­nem Or­ches­ter in klang­li­cher Hin­sicht „neue“ Mu­sik zu schrei­ben ist kaum mög­lich. Aber ver­ges­sen wir nicht: Klang­ma­te­ria­li­en und mu­si­ka­li­sche For­men sind die – man könn­te sa­gen – „ma­te­ri­el­le“ Sei­te der Mu­sik. Durch al­les was in den letz­ten 600 Jah­ren mu­si­ka­lisch ent­deckt und ent­wi­ckelt wur­de, hat der heu­ti­ge Mu­sik­schaf­fen­de eine noch nie da­ge­we­se­ne Pa­let­te von Mög­lich­kei­ten. Die Fra­ge ist: Hat er auch die Frei­heit sie zu be­nüt­zen? Und da ge­hen die Mei­nun­gen sehr auseinander.
Vie­le An­hän­ger der avant­gar­dis­ti­schen Äs­the­tik hal­ten aus­schlieβ­lich das Ver­wen­den der letz­ten Ent­wick­lun­gen oder zu­min­dest der­je­ni­gen der Nach­kriegs­avant­gar­de für le­gi­tim und hof­fen auf eine Wei­ter­ent­wick­lung. Das Ver­wen­den von bei­spiels­wei­se to­na­len Be­zü­gen gilt in ge­wis­sen Krei­sen ge­ra­de­zu als Ver­rat. Die­ses Den­ken soll­te man mei­ner Mei­nung nach nun am Be­ginn ei­nes neu­en Jahr­hun­derts hin­ter sich las­sen, weil es – bei al­ler plau­si­blen Be­grün­dung – ganz ein­fach un­frei und dog­ma­tisch ist. Eine schlech­te Vor­aus­set­zung, um zu wirk­lich „neu­en“ Re­sul­ta­ten zu kommen.

Heute geht es nicht mehr um „tonal“ oder „atonal“

Es kann heu­te nicht mehr um „to­nal“ oder „ato­nal“ ge­hen. Mei­ner Mei­nung nach ist es heu­te eine Be­frei­ung und auch eine Chan­ce, wenn man sich vom Den­ken, die Mu­sik­ge­schich­te als ge­rad­li­ni­ges Kon­ti­nu­um zu be­trach­ten löst, wo Epo­che auf Epo­che folgt, ent­we­der als Wei­ter­ent­wick­lung des Vor­han­de­nen oder als Re­ak­ti­on dar­auf. Es ist ja eine un­be­streit­ba­re Rea­li­tät, dass im heu­ti­gen Kon­zer­t­an­ge­bot sämt­li­che Epo­chen in ei­ner noch nie da­ge­we­se­nen Wei­se gleich­zei­tig prä­sent sind, und dem­entspre­chend auch in un­se­rem Be­wusst­sein. Man soll­te ver­su­chen, die Mu­sik­ge­schich­te als stän­di­ge Er­wei­te­rung der klang­li­chen Mög­lich­kei­ten zu sehen.

Wenn man die bis heu­te ent­wi­ckel­ten mu­si­ka­li­schen Mit­tel als Gan­zes sieht und sich die Frei­heit nimmt, sie auch als Gan­zes zu ver­wen­den, ste­hen wir eher an ei­nem Be­ginn als an ei­nem Ende. Die Schwie­rig­keit ist heu­te, in die­ser im­mensen Pa­let­te von Mög­lich­kei­ten ei­nen per­sön­li­chen Weg zu finden.

MJ: Ha­ben Sie ihn gefunden?

FM: Auf ir­gend­ei­nem Weg bin ich, weiβ aber nicht wo­hin er führt. Ich habe ein sehr ne­bel­haf­tes Ge­fühl da­von, wie es in Zu­kunft wei­ter­ge­hen könn­te. Wenn Sie mich aber fra­gen, war­um ich heu­te so kom­po­nie­re und nicht an­ders, dann ist mei­ne ein­zi­ge ehr­li­che Ant­wort dar­auf: weil ich nicht an­ders kann. Alle äs­the­ti­schen und phi­lo­so­phi­schen Be­grün­dun­gen fol­gen erst nach­her. Es war mir im­mer ein An­lie­gen, das zu schrei­ben, was ich wirk­lich in­ner­lich wahr­neh­me, ohne jeg­li­che Kon­zes­sio­nen an heu­ti­ge Hö­rer­war­tun­gen. Wenn ich das Be­dürf­nis habe, et­was auf­zu­schrei­ben und es stellt sich her­aus, dass es zum Bei­spiel An­klän­ge an Mahler hat, dann hat das da­mit zu tun, dass ich Mahlers Mu­sik eben sehr lie­be und seit mei­ner Ju­gend so oft ge­hört habe, dass sie längst in mir ver­in­ner­licht ist.

Manuskript-Skizze der 4. Sinfonie von Gustav Mahler (1. Satz, 1. Fassung 1899)
Ma­nu­skript-Skiz­ze der 4. Sin­fo­nie von Gus­tav Mahler (1. Satz, 1. Fas­sung 1899)

Na­tür­lich könn­te ich das Wahr­ge­nom­me­ne nun so ver­frem­den, dass es avant­gar­dis­tisch da­her­kommt. Doch war­um? Die Be­weg­grün­de da­für wä­ren mir su­spekt. Na­tür­lich spre­che ich hier nur von sub­ti­len An­klän­gen, die sich von selbst ein­stel­len und nicht von län­ge­ren Pas­sa­gen oder gar Stil­ko­pie. Mit Stil­ko­pien kann ich gar nichts an­fan­gen. Auβer­dem ist für mich die Klang­welt des Sym­pho­nie-Or­ches­ters noch im­mer das Gröβ­te – für Elek­tro­nik konn­te ich mich nie so rich­tig be­geis­tern, sie war mir im­mer et­was zu kalt – also wer­de ich wohl wei­ter­hin für die her­kömm­li­chen In­stru­men­te schrei­ben. Na­tür­lich träu­me ich da­von – wie es wahr­schein­lich je­der Kom­po­nist tut – Klän­ge, die bis­he­ri­gen und neue dazu, ei­nes Ta­ges auf noch nie da­ge­we­se­ne Art zu ver­wen­den… dar­an ar­bei­te ich.
Ge­wis­se Syn­the­sen von ver­schie­de­nen Stil­mit­teln ei­ni­ger heu­ti­ger Kom­po­nis­ten kön­nen durch­aus als „neu“ be­zeich­net wer­den, weil Mu­sik noch nie in die­ser Form er­klun­gen ist. Die­ses „Neue“ ist zur Zeit in Eu­ro­pa vor al­lem in den nor­di­schen oder bal­ti­schen Staa­ten zu finden.

MJ: Am An­fang ha­ben Sie un­ter­schie­den zwi­schen In­halt und mu­si­ka­li­schem Ma­te­ri­al – wir ha­ben bis jetzt haupt­säch­lich über das mu­si­ka­li­sche Ma­te­ri­al ge­spro­chen. Gibt es auch „Neu­es“, was den In­halt betrifft?

FM: Dar­über möch­te ich ger­ne et­was sa­gen, näm­lich über das Be­dürf­nis ei­nes Kom­po­nis­ten, über­haupt et­was zu schrei­ben, über­haupt die­se un­de­fi­nier­ba­ren Din­ge und Emp­fin­dun­gen, die ihn nicht los­las­sen, in Mu­sik aus­zu­drü­cken. Es gibt die­se ewi­ge Sehn­sucht nach dem Un­er­reich­ba­ren, die Sehn­sucht nach voll­kom­me­nem Glück, voll­kom­me­ner Lie­be, Ek­sta­se, Schönheit.

Die Mu­sik der meis­ten Kom­po­nis­ten, die ich für groβ hal­te, er­zählt von der Freu­de an die­sen wun­der­ba­ren Din­gen, für die es sich zu le­ben lohnt – und gleich­zei­tig schwingt dar­in eine Me­lan­cho­lie mit – die Trau­er dar­über, dass man die­se Din­ge eben nie ganz er­reicht. Sol­che Mu­sik kann uns er­grei­fen, er­schüt­tern, ver­zau­bern. Sie ent­springt ei­nem Nie­mands­land ir­gend­wo zwi­schen der Sehn­sucht selbst und dem, was man her­bei­sehnt. Das bes­te Bei­spiel im 20. Jahr­hun­dert für das, was ich mei­ne, ist die Mu­sik von Oli­vi­er Mes­siaen. Sei­ne Mu­sik ist für mich zu­kunfts­wei­send.“ (Fa­bi­an Müller)

Dem intellektuellen Umgang mit Klang ist die Transzendenz abhanden gekommen

Dem rein in­tel­lek­tu­el­len Um­gang mit Klang in den letz­ten Jahr­zehn­ten ist die­se tran­szen­den­te Di­men­si­on der Mu­sik et­was ab­han­den ge­kom­men. Es ist wohl die Auf­ga­be der jün­ge­ren und nächs­ten Ge­ne­ra­tio­nen, der Kunst­mu­sik die­se Di­men­si­on wie­der zu­rück­zu­ge­win­nen. Mei­ner Mei­nung nach hat nur eine Mu­sik dau­er­haf­ten Wert, die den Men­schen als Gan­zes an­zu­spre­chen ver­mag. We­der los­ge­lös­ter in­tel­lek­tu­el­ler Kit­zel noch Ge­fühls­schwär­me­rei ohne Lo­gik be­frie­digt auf die Dau­er. Über die „wis­sen­schaft­li­che“ Ana­ly­sier­bar­keit ei­nes Wer­kes freu­en sich al­len­falls die Mu­sik­wis­sen­schaf­ter und Kri­ti­ker und oft auch nur des­we­gen, weil ih­nen ein an­de­rer Zu­gang zur Mu­sik ver­wehrt bleibt. Der Be­griff „Mu­sik­wis­sen­schaft“ birgt in sich so­wie­so schon ein Paradoxon.
Denn das, was Mu­sik wirk­lich aus­macht, be­ginnt dort, wo der Wis­sen­schaft die Tü­ren ver­schlos­sen blei­ben. Konn­te je­mals je­mand er­klä­ren, war­um ei­nen bei­spiels­wei­se das The­ma des 2. Sat­zes im Dop­pel­kon­zert von Brahms aus den So­cken hebt? Und dies auch beim x-ten An­hö­ren? Na­tür­lich lässt sich viel über die Span­nungs­ver­hält­nis­se der In­ter­val­le im Ver­lauf die­ser Me­lo­die sa­gen und es wird ir­gend­wie of­fen­sicht­lich, war­um es sich um eine „gute“ Me­lo­die han­delt. Aber hat je­mals je­mand durch sol­che – wis­sen­schaft­li­chen – Er­kennt­nis­se die Fä­hig­keit er­langt, eine ähn­lich gute Me­lo­die zu schreiben?

Olivier Messiaen: Aus "Oiseaux exotiques 1955
Oli­vi­er Mes­siaen: Aus „Oi­se­aux exo­ti­ques 1955

Musik ist wie das Leben, sie lässt sich nicht erklären

Interview mit Fabian Mueller - Komponierhaus - Glarean Magazin
Das „Kom­po­nier-Gar­ten­häus­chen“ von F. Mül­ler in Zü­rich – ge­ni­us loci des Komponisten

Mu­sik ist wie das Le­ben, sie lässt sich nicht er­klä­ren, und ein ein­zel­nes Werk ist wie ein Mensch: Lan­ge ana­ly­ti­sche Werk­ein­füh­rungs­tex­te sind wie ana­to­mi­sche Be­schrei­bun­gen und we­cken in mir den Ver­dacht, dass ich im Kon­zert eine klin­gen­de Lei­che zu hö­ren bekomme.

MJ: Wenn Sie vor­hin von die­ser Sehn­sucht nach dem Un­er­reich­ba­ren ge­spro­chen ha­ben, ist das nicht ei­gent­lich der Zeit­geist der Romantik?

FM: Vie­les was heu­te to­nal klingt oder to­na­le An­klän­ge hat, wird als „Neo­ro­man­tik“ be­zeich­net. Das geht manch­mal auch mei­ner Mu­sik so, und mir per­sön­lich auf den We­cker… „Neo­ro­man­tisch“ ist ein so un­schar­fer Be­griff – und wenn ich be­den­ke, dass oft schon ein paar Drei­klän­ge oder ein Me­lo­die­fet­zen aus­rei­chen, um Mu­sik als neo­ro­man­tisch zu be­ti­teln, dann kommt mir das ir­gend­wie lä­cher­lich vor. Si­cher, ich bin wohl ein „ro­man­ti­scher“ Mensch, wenn „Ro­man­tik“ eben die­se Sehn­sucht nach dem Un­er­reich­ba­ren, Tran­szen­den­ten meint, aber war­um dann „neo“? Ist denn Sehn­sucht bloβ die Emp­fin­dung ei­ner Stil­epo­che? Ganz si­cher nicht! Viel­mehr ist die­ses Ge­fühl ja et­was von dem, was den Men­schen über­haupt aus­macht. Und das, was den Men­schen aus­macht – das ist ja doch ewi­ges The­ma jed­wel­cher Kunst. Ro­man­tik als mensch­li­chen Aus­druck hat es im­mer ge­ge­ben, und wird es im­mer ge­ben, weil die Sehn­sucht im­mer da ist. Der Zeit­geist be­stimmt ei­gent­lich nur, auf wel­che Wei­se sich die­ses Seh­nen ausdrückt… ♦

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Neue Mu­sik auch über
Ur­su­la Pe­trik: Die Lei­den der Neu­en Musik
aus­ser­dem im GLAREAN zum The­ma Mu­sik-Ro­man­tik über die Sin­fo­nie von
An­to­nin Dvo­rak: Aus der Neu­en Welt (Ru­brik „Heu­te vor … Jahren“)

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