Michael Ehn & Hugo Kastner: Alles über Schach

Mythen und Kuriositäten rund ums Königliche Spiel

von Tho­mas Binder

Der Hum­boldt-Ver­lag hat sich in letz­ter Zeit ver­stärkt des kö­nig­li­chen Spiels an­ge­nom­men. Mitt­ler­wei­le ist dort eine klei­ne Schach­bi­blio­thek ent­stan­den, die alle we­sent­li­chen Be­rei­che von der Er­öff­nung bis zum End­spiel ab­deckt. Nach „Le­gen­dä­re Schach­par­tien“ liegt nun mit „Al­les über Schach – My­then, Ku­rio­si­tä­ten, Su­per­la­ti­ve“ das zwei­te auf mo­sa­ik­ar­ti­ge In­for­ma­ti­on aus­ge­rich­te­te Buch vor. Als Au­toren las­sen der be­kann­te Schach­his­to­ri­ker und -jour­na­list Mi­cha­el Ehn so­wie der Spie­le-Ex­per­te Hugo Kast­ner höchs­te An­sprü­che erwarten.

Unterhaltsame und lehrreiche Lektüre

Michael Ehn - Hugo Kastner - Alles über Schach - Mythen-Kuriositäten-Superlative - Humboldt VerlagDas Gen­re, dem sie sich ver­schrie­ben ha­ben, ist nicht neu. Zu al­len Zei­ten wur­den Bü­cher ge­schrie­ben, die in un­ter­halt­sa­mer Wei­se mög­lichst viel­sei­ti­ge Fak­ten aus der Ge­schich­te des Schach­spiels sam­meln und sie mit be­son­ders spek­ta­ku­lä­ren Zü­gen wür­zen. Ein Blick nur in den ei­ge­nen Bü­cher­schrank des Re­zen­sen­ten för­dert u.a. Wer­ke von Krab­bé („Schach-Be­son­der­hei­ten“), Dams­ky („Ch­ess re­cords“), Fox / Ja­mes („The com­ple­te ch­ess ad­dict“), Lin­der („Fas­zi­nie­ren­des Schach“) oder die schach­his­to­ri­schen Wer­ke von Ed­ward Win­ter zu Tage. Der letz­te grös­se­re Bei­trag auf die­sem Ge­biet, Chris­ti­an Hes­ses „Ex­pe­di­tio­nen in die Schach­welt“, setz­te in man­cher Hin­sicht neue Mass­stä­be und wird von Ehn/Kastner in ei­ner Rang­lis­te der wich­tigs­ten Schach­bü­cher zu Recht ganz weit vorn ein­ge­ord­net. Die vor­ge­nann­ten Ti­tel um­reis­sen etwa das Spek­trum, das wir auch hier zu er­war­ten ha­ben, set­zen aber Schwer­punk­te auf je­weils ei­ge­nem Ge­biet. So ist Hes­se in sei­nen Ana­ly­sen deut­lich tief­grün­di­ger, Krab­bé kon­zen­triert sich auf we­ni­ge Ein­zel­the­men, Win­ter be­treibt ei­gen­stän­di­ge schach­his­to­ri­sche Forschung.

Unterhaltsame und lehrreiche Lektüre

Ehn und Kast­ner lö­sen mit Leich­tig­keit die Auf­ga­be, sich in die­ser Viel­falt zu be­haup­ten und le­gen ein Buch vor, das sich – auch bei sehr güns­ti­gem Preis-Leis­tungs­ver­hält­nis – als un­ter­halt­sa­me und lehr­rei­che Lek­tü­re für je­den Schach­freund emp­feh­len kann. Sei­ne Stär­ke ist die Viel­falt der an­ge­spro­che­nen The­men­kom­ple­xe bei an­spre­chen­der Ge­stal­tung. Na­tur­ge­mäss fin­det man vie­les wie­der, was man aus ähn­li­chen Samm­lun­gen be­reits kennt. Aber selbst der ver­sier­te Le­ser wird neue Fak­ten, In­for­ma­tio­nen und vor al­lem Par­tien ent­de­cken. Ge­gen­über an­de­ren Wer­ken die­ser Art hebt sich „Al­les über Schach“ zu­dem mit ei­ner an­sehn­li­chen Rei­he von Fo­to­sei­ten ab.
Wo im­mer es geht, füh­ren die Au­toren eine Art Rang­lis­te ein, fol­gen dar­in wohl dem Zeit­geist der Fern­seh-Ran­king-Shows. Mein Ge­schmack ist die­se Pseu­do-Ob­jek­ti­vi­tät nicht, aber es stört auch nicht wirk­lich. Viel­leicht macht ja ein In­ter­net-Por­tal dar­aus so­gar eine trag­fä­hi­ge Idee für Ab­stim­mun­gen nach den „Best-Of“s der Schachgeschichte.

Von „Haremsdame“ bis zu „Dynamischen Figuren“

Leseprobe 1 aus "Alles über Schach" (Humboldt-Verlag) - "Das Problem der Haremsdame"
Le­se­pro­be 1 aus „Al­les über Schach“ (Hum­boldt-Ver­lag) – „Das Pro­blem der Haremsdame“

Bli­cken wir kurz auf den In­halt – nur so kann man wohl den viel­sei­ti­gen Cha­rak­ter des Bu­ches er­fas­sen. Es glie­dert sich in sechs gros­se Ab­schnit­te mit je­weils zwei Schlag­wor­ten als Titel:
„Ge­schich­te & My­thos“ (ca. 65 Sei­ten): Kur­ze Ab­ris­se zur Schach­ge­schich­te von der un­ver­meid­li­chen Wei­zen­korn­le­gen­de über Mit­tel­al­ter und 20. Jahr­hun­dert bis zum Computer-Zeitalter.
„Meis­ter & Ama­teur“ (ca. 100 Sei­ten): Es be­ginnt mit Sta­tis­ti­ken und Su­per­la­ti­ven, wie man sie in vie­len der­ar­ti­gen Bü­chern fin­det und Sei­ten­bli­cken auf schach­spie­len­de Po­li­ti­ker, Sport­ler und Künst­ler. Dann folgt „end­lich“ die ers­te Rang­lis­te: Die 10 wich­tigs­ten Schach­spie­le­rin­nen der Ge­schich­te. Wei­te­re Lis­ten fol­gen für die Top-Spie­ler, die nie­mals Welt­meis­ter wur­den (Phil­i­dor vor Mor­phy und Ke­res) so­wie die Ti­tel­trä­ger (Wa­ren wirk­lich Euwe und Spass­ky die „schwächs­ten“ Weltmeister?).
„Par­tie & Tur­nier“ (ca. 60 Sei­ten): Ne­ben ei­ni­gen Re­kor­den und Su­per­la­ti­ven der Tur­nier­ge­schich­te und zu Par­tien (a la „Schnells­tes Patt“ und „lang­le­bigs­te Vier­fach­bau­ern“) ste­hen nun die Rang­lis­ten ganz im Mit­tel­punkt. Ehn und Kast­ner ser­vie­ren – nach ih­rer Ein­schät­zung, aber weit­ge­hend plau­si­bel – die schöns­ten Ein­zel­zü­ge aus prak­ti­schen Par­tien: Mar­shalls „Gol­de­ner Zug“ lan­det auf Platz 4, Sie dür­fen also ge­spannt sein, wer sich vor ihm plat­ziert. Es fol­gen die zehn bes­ten Kurz­par­tien, wo­bei mir die Gren­ze bei ma­xi­mal 22 Zü­gen et­was hoch ge­grif­fen er­scheint, so­wie 2×10 „Par­tien für die Ewig­keit“. In die­ser letz­ten Ka­te­go­rie hel­fen sich die Au­toren mit dem Kunst­griff ei­ner zeit­li­chen Zwei­tei­lung. Zu­nächst wer­den uns die Klas­si­ker prä­sen­tiert, dann die Par­tien der letz­ten 60 Jah­re. Mit Blick auf das Ge­samt­werk hät­te ich mir die­sen Ab­schnitt et­was um­fang­rei­cher gewünscht.

Kunst und Literatur im Schach

Leseprobe 2 aus "Alles über Schach" (Humboldt-Verlag) - "Dynamische Figuren"
Le­se­pro­be 2 aus „Al­les über Schach“ (Hum­boldt-Ver­lag) – „Dy­na­mi­sche Figuren“

Kunst & Li­te­ra­tur“ (ca. 55 Sei­ten): Hier geht es vor al­lem um Schach in Li­te­ra­tur und Film so­wie um Schach­his­to­ri­ker und -samm­ler. Ne­ben ei­ni­gen epi­so­dischen Ar­ti­keln sind auch hier Rang­lis­ten prä­sent. Be­mer­kens­wer­ter­wei­se be­legt so­wohl bei den Schach­bü­chern wie bei den Schach­fil­men der glei­che Stoff den ers­ten Platz. Wel­cher es ist, soll hier nicht ver­ra­ten werden.
„Pro­blem & Stu­die“ (ca. 90 Sei­ten): Für mei­nen Ge­schmack ist die­ser Be­reich, der den meis­ten Le­sern we­ni­ger ver­traut sein wird, et­was über­re­prä­sen­tiert. Gleich 11 Rang­lis­ten gibt es zu ver­schie­de­nen Be­rei­chen des Kunst­schachs von Re­tro- über Mär­chen­schach bis zu Pro­ble­men und Stu­di­en und ih­ren je­wei­li­gen Prot­ago­nis­ten. Da ver­liert man schnell die Über­sicht, zu­mal ge­ra­de die­se Be­rei­che oft mehr Er­läu­te­rung ge­braucht hät­ten. Eine Lö­sung von „Dawson’s Weih­nachts­baum“ auf we­ni­gen Zei­len dürf­te je­den­falls beim Re­tro-un­er­fah­re­nen Le­ser mehr Fra­gen als Ant­wor­ten hin­ter­las­sen. Des­sen un­ge­ach­tet, hält auch die­ser Ab­schnitt eine Rei­he net­ter Ent­de­ckun­gen be­reit, die dem Re­zen­sen­ten bis­her ent­gan­gen waren.
„Rös­sel­sprün­ge & Ro­cha­den“ (ca. 50 Sei­ten): Das letz­te Ka­pi­tel ver­eint in kur­zen Split­tern viel­fäl­ti­ge Ku­rio­si­tä­ten aus der Ge­schich­te des Schachs. Ver­ges­se­ne Na­men und Fak­ten wer­den ans Licht ge­zo­gen. Vie­les da­von liest man gern. Wuss­ten Sie zum Bei­spiel, dass man sich frü­her bei man­chen Tur­nie­ren Be­denk­zeit re­gel­recht „ein­kau­fen“ konn­te oder dass es ei­nen ein­zi­gen Schach-Welt­meis­ter gab, zu des­sen Hob­bies das Ka­nu­fah­ren ge­hör­te? Auf die Nach­richt über ei­nen – mir bis­lang un­be­kann­ten – Schach­meis­ter, der nach sei­nem Tode aus­ge­stopft und zur Schau ge­stellt wur­de, hät­te ich hin­ge­gen ger­ne ver­zich­tet. Ganz zum Schluss folgt auch in die­sem Ka­pi­tel eine Rang­lis­te: Un­ter „10 Schach-Va­ri­an­ten“ führt Fi­scher-Ran­dom vor Tan­dem- und Räu­ber­schach. Das ist dann eine Spit­zen­grup­pe, der auch der prak­ti­zie­ren­de Ju­gend­trai­ner aus ei­ge­ner Er­fah­rung zu­stim­men kann.

464 Seiten ungetrübe Lesefreude

Mit
Mit „Al­les über Schach“ kom­plet­tiert der Hum­boldt-Ver­lag sei­ne Schach­rei­he mit ei­nem in­for­ma­ti­ven und viel­sei­ti­gen Lese-Buch. Die Au­toren Ehn und Kast­ner er­gän­zen das be­reits gut ver­sorg­te Gen­re mit ei­nem Werk, das in­ter­es­san­te ei­ge­ne Schwer­punk­te setzt.

464 Sei­ten un­ge­trüb­ter Le­se­freu­de lie­gen hin­ter uns. Ei­ni­ge we­ni­ge hand­werk­li­che Feh­ler sind dem Re­zen­sen­ten auf­ge­fal­len; sie las­sen sich bei ei­ner Neu­auf­la­ge si­cher be­he­ben: So wird dem jun­gen deut­schen Fuss­ball­star Özil, der lei­den­schaft­lich gern Schach spielt, ein fal­scher Vor­na­me bei­gege­ben; Beim Kom­men­tar zu Kortschnoi–Karpow (5. WM-Par­tie 1978) zi­tiert der Au­tor zwar wi­der­sprüch­li­che Ein­schät­zun­gen von Rau­ser und Tal, ver­zich­tet aber auf die heu­te mög­li­che Ob­jek­ti­vie­rung durch Tablebases.
Die schach­li­chen Ana­ly­sen sind not­wen­di­ger­wei­se durch­weg recht kurz. Den­noch soll­ten ober­fläch­li­che For­mu­lie­run­gen (wie „… und matt im nächs­ten Zug“, wenn doch tat­säch­lich noch ver­zö­gern­de Ver­tei­di­gun­gen mög­lich sind, die u.U. so­gar zu ei­nem an­de­ren Matt­bild füh­ren) noch aus­ge­bes­sert werden.
Schliess­lich wünscht sich der Re­zen­sent noch ein Na­mens- bzw. Par­tie­ver­zeich­nis im An­hang und wür­de da­für auch ger­ne auf die nach Stern­zei­chen sor­tier­te Ge­burts­tags­lis­te verzichten… ♦

Mi­cha­el Ehn/Hugo Kast­ner: Al­les über Schach, Hum­boldt Ver­lag Han­no­ver, 464 Sei­ten, ISBN 978-3-86910-171-2

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma „Schach-Ku­rio­si­tä­ten“ auch über
Hel­mut Pfle­ger: ZEIT-Schachspalten

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